Knochenmarkuntersuchung

Autor:  Maria Yiallouros, Zuletzt geändert: 30.11.2023 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e11437

Da eine Leukämieerkrankung vom Knochenmark – dem Ort der Blutbildung – ausgeht, muss der Arzt bei Verdacht auf Leukämie zur Sicherung der Diagnose immer auch das Knochenmark untersuchen.

Die Knochenmarkuntersuchung trägt entscheidend dazu bei, eine Leukämie von leukämieähnlichen Krankheitsbildern abzugrenzen, beispielsweise von Viruserkrankungen wie dem Pfeiffer-Drüsenfieber oder von anderen Blutkrankheiten, die nichts mit Leukämie zu tun haben (wie die aplastische Anämie).

Zur Durchführung der Untersuchung entnimmt der Arzt eine kleine Menge Knochenmark aus dem Beckenkammknochen. Dort ist das Knochenmark nur durch eine relativ dünne Knochenschicht von der Haut getrennt, so dass die Entnahme ohne wesentliches Risiko erfolgen kann.

Mit Hilfe einer dünnen Hohlnadel saugt der Arzt wenige Milliliter Knochenmark in eine Spritze (Knochenmarkpunktion). Die Punktion erfolgt bei größeren Kindern unter örtlicher Betäubung; eventuell wird zusätzlich ein Beruhigungsmittel verabreicht (Sedierung). Bei kleineren Kindern kann unter Umständen eine kurze Narkose (Allgemeinnarkose, Vollnarkose) zweckmäßig sein. Damit sollen die Schmerzen, die beim Ansaugen des Knochenmarkblutes entstehen, so gering wie möglich gehalten werden. Die Untersuchung kann ambulant durchgeführt werden und dauert meist nicht länger als 15 Minuten.

In seltenen Fällen, wenn sich durch die Punktion nicht genügend Knochenmark gewinnen lässt, kann der Arzt auch mit einer speziellen, etwas dickeren Hohlnadel einen etwa 2 cm langen Gewebezylinder aus dem Knochen stanzen (Knochenmarkstanzbiopsie). Diese Untersuchung erfolgt immer in Allgemeinnarkose.

Das gewonnene Knochenmark wird vom Arzt auf seine zellulären und feingeweblichen Eigenschaften überprüft und für weitere, spezielle Untersuchungsmethoden aufbereitet, die der genaueren Bestimmung der Leukämieform beziehungsweise -unterform dienen [ESC2016‎]. Da sich verschiedene ALL-Unterformen zum Teil deutlich in ihrem Krankheitsverlauf sowie in ihrer Prognose und Therapierbarkeit unterscheiden, ist die genaue Kenntnis des ALL-Typs von entscheidender Bedeutung für die Behandlungsplanung.

Knochenmarkbefund bei einer ALL (Zytomorphologie und Zytochemie)

Die Diagnose ALL wird zunächst durch die zytomorphologische und zytochemische [zytologische] Untersuchung des Knochenmarks (und des Blutes) gestellt. Bei der Untersuchung wird Knochenmark auf einem Objektträger ausgestrichen, mit Spezialfarbstoffen angefärbt und anschließend unter dem Mikroskop betrachtet. Die Zellen werden im Hinblick auf ihr Aussehen und ihre Anzahl beurteilt. Dabei kann festgestellt werden, ob tatsächlich eine Leukämie vorliegt und wenn ja, ob es sich um eine lymphoblastische oder eine myeloische Leukämie handelt.

Die Diagnose ALL gilt als gesichert, wenn mehr als 25 % der kernhaltigen Zellen des Knochenmarks unreife Zellen (Lymphoblasten oder kurz: Blasten) sind. Bei der Feststellung einer ALL sind meist mehr als 80 % der Knochenmarkzellen bösartig. Oft sind es sogar mehr als 95 %, selten weniger als 50 % [GUT2000]. Beträgt der Anteil der Lymphoblasten im Knochenmark weniger als 25 % und befinden sich keine Lymphoblasten im Blut, handelt es sich bei der Erkrankung nicht um eine ALL; möglicherweise liegt dann ein Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) vor.

Immunologische und genetische Untersuchungen zur Bestimmung der ALL-Unterform

Immunologische [immunologisch] und genetische Untersuchungsmethoden erlauben zum einen eine Unterscheidung zwischen lymphoblastischen und nicht-lymphoblastischen Leukämien, zum anderen ermöglichen sie eine weitere Einteilung der ALL in verschiedene Unterformen. Das wichtigste Verfahren zur Bestimmung des ALL-Typs (sowie zur Klassifizierung der Leukämien allgemein) ist die Immunphänotypisierung. Die Ergebnisse der Untersuchung stehen rasch zur Verfügung und können zur sofortigen Behandlungsplanung herangezogen werden.

Zytogenetische [zytogenetisch] und molekulargenetische Untersuchungen sind technisch aufwändiger und daher in der Regel nicht für die schnelle Diagnose des ALL-Typs verfügbar. Sie spielen jedoch eine wichtige Rolle bei der weiteren Therapieplanung und der Bewertung der Prognose. Vor allem die Molekulargenetik gewinnt zunehmend an Bedeutung und ersetzt heute zum Teil die Zytogenetik [ESC2021] [SCH2018].

Immunphänotypisierung

Bei der Immunphänotypisierung wird mit Hilfe verschiedener Spezialverfahren und unter Verwendung monoklonaler Antikörper [siehe monoklonale Antikörper] nach bestimmten Eiweißen, so genannten Antigenen, auf der Oberfläche oder im Inneren der Leukämiezellen gesucht. Dadurch ist es möglich, die Art der bösartigen Zellen und ihr Reifungsstadium (B-Lymphozyten oder T-Lymphozyten beziehungsweise deren Vorstufen) zu bestimmen.

Anhand der Immunphänotypisierung lassen sich – unterteilt nach B- und T-Zell-ALL-Formen – die folgenden Unterformen (Subtypen) unterscheiden:

  • B-Zell-ALL: Dazu gehören die Pro-B-ALL (auch Prä-Prä-B-ALL), die Common ALL, die Prä-B-ALL und die reife B-ALL (auch B-AL).
  • T-Zell-ALL: Dazu gehören die frühen T-ALL-Formen (Pro- und Prä-T-ALL), die intermediäre (kortikal) T-ALL und die reife T-ALL.

Diese Einteilung hat prognostische und therapeutische Bedeutung (siehe auch Kapitel „Therapieplanung“). Darüber hinaus dient die Immunphänotypisierung auch der Abgrenzung einer ALL von einer akuten myeloischen Leukämie (AML) [ESC2021].

Zytogenetik

Die Zytogenetik umfasst Untersuchungen zum Nachweis von Veränderungen im menschlichen Erbmaterial (Genom). Leukämiezellen weisen nämlich häufig Veränderungen der Chromosomen auf, die mit Hilfe der Zytogenetik, der mikroskopischen Untersuchung des Zellkerns, festgestellt werden können. Besonders häufig ist ein Austausch von Genabschnitten zwischen zwei Chromosomen, eine so genannte Translokation, die in der Regel mit der Entstehung eines neuen Gens (auch Fusionsgen genannt) verbunden ist. Das veränderte Gen sorgt dafür, dass ein ebenfalls verändertes Eiweiß gebildet wird, welches wiederum die betroffene Zelle zu unkontrollierter Vermehrung veranlasst.

Bei manchen Patienten mit ALL findet man zum Beispiel eine Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 [abgekürzt: t(9;22)], die man auch als Philadelphia-Chromosom bezeichnet. Bei dieser Translokation verschmilzt das BCR-Gen auf Chromosom 22 mit dem ABL-Gen auf Chromosom 9 zum BCR-ABL-Fusionsgen. Aber auch zwischen anderen Chromosomen kann es zu einem Austausch von Erbmaterial mit entsprechender Bildung von Fusionsgenen kommen. Verschiedene Chromosomenveränderungen wirken sich unterschiedlich auf die Prognose aus und werden bei der Therapieplanung entsprechend berücksichtigt.

Molekulargenetik

Mit Hilfe der Molekulargenetik wird nach Veränderungen im Erbmaterial gesucht, die mit dem Mikroskop nicht erkennbar sind. Untersucht wird dabei die Struktur verschiedener Gene, die in Leukämiezellen häufig verändert sind. Die Molekulargenetik bietet außerdem eine neue Möglichkeit, den Erkrankungsverlauf bei einzelnen Patienten genau zu verfolgen. Ermöglicht wird dies durch die Tatsache, dass die Leukämiezellen bei jedem Patienten einzigartige, also patientenspezifische, Merkmale aufweisen (siehe auch Kapitel „Therapieplanung – Unterform der ALL“).

Einige dieser Merkmale können mit molekulargenetischen Methoden (zum Beispiel der Polymerase-Kettenreaktion; englisch: polymerase chain reaktion = PCR, oder der Durchflusszytometrie, FCM) bestimmt werden. Diese sind so empfindlich, dass sich die Zahl der eventuell noch verbliebenen Leukämiezellen (eine so genannte "minimale Resterkrankung") auch dann noch genau feststellen lässt, wenn nach Behandlungsbeginn unter dem Mikroskop keine bösartigen Zellen mehr zu sehen sind.

Die Messung der minimalen Resterkrankung (englisch: minimal residual disease; MRD) gibt Auskunft darüber, ob tatsächlich sämtliche Leukämiezellen durch die Therapie vernichtet wurden oder ob die Zahl der Leukämiezellen noch so hoch ist, dass eine weitere Intensivierung der Therapie erforderlich ist.

Gut zu wissen: die Gewinnung von Zellen zwecks Isolierung von DNA und die nachfolgende Charakterisierung bestimmter Gene sind für den nachfolgenden Nachweis der minimalen Resterkrankung (MRD) unverzichtbar.