Störungen von Pubertätsentwicklung und Fruchtbarkeit

Autor:  PD Dr. med. Gesche Tallen, Redaktion:  Maria Yiallouros, Zuletzt geändert: 11.03.2016 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e165755

Bei ehemaligen Patienten mit ZNS-Tumor können sowohl der Tumor selbst aus auch eine Operation, eine Chemotherapie mit bestimmten Medikamenten sowie eine Bestrahlung des Schädels (insbesondere im Bereich von Hypothalamus / Hypophyse) und / oder der Wirbelsäule (im Bereich der Keimdrüsen) später zu Störungen der Pubertätsentwicklung sowie zu Beeinträchtigungen der Fruchtbarkeit oder gar Unfruchtbarkeit (Infertilität) führen.

Von Unfruchtbarkeit spricht man, wenn eine Schwangerschaft nach mindestens zwei Jahren unverhütetem Geschlechtsverkehrs ausbleibt.

Eine häufige und wichtige Frage vieler Überlebender einer ZNS-Tumorerkrankung im Kindes- oder Jugendalter ist daher, inwieweit die Krankheit beziehungsweise die intensiven Behandlungen die gesunde Entwicklung ihrer Fortpflanzungsorgane beeinflusst haben, und auch, ob sie die Gesundheit ihrer Nachkommen beeinträchtigen werden.

Gut zu wissen: Heutzutage ist bei den meisten Überlebenden einer ZNS-Tumorerkrankung im Kindes- oder Jugendalter nicht davon auszugehen, dass es durch die Behandlung später zur Schädigung oder zu Fehlbildungen bei ihren Nachkommen kommt.

Im Folgenden sollen tumor- und behandlungsbedingte Spätfolgen an Organen, die bei der Fortpflanzung eine Rolle spielen, erläutert werden.

Mögliche Spätfolgen nach Schädelbestrahlung

Verzögerte Pubertätsentwickung und beeinträchtigte Fruchtbarkeit (hypogonadotroper Hypogonadismus)

Im Vorderlappen der Hirnanhangsdrüse (Hypophysenvorderlappen) werden – unter dem Einfluss des Hypothalamus – unter anderem zwei Geschlechtshormone, so genannte Gonadotropine, produziert: luteinisierendes Hormon (LH) und Follikel-stimulierendes Hormon (FSH). Die beiden Hormone regulieren die Reifung und Funktion der Hoden und der Eierstöcke.

Beim Mann regt LH die Produktion von männlichem Geschlechtshormon (Testosteron) in den Leydigzellen des Hodens an. Gemeinsam mit FSH reguliert Testosteron die Ausreifung der Spermien.

Bei der Frau stimuliert LH die Bildung der Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron in den Eierstöcken (Ovarien). Östrogene und Progesteron regulieren gemeinsam den Menstruationszyklus. Die LH-Ausschüttung aus der Hypophyse führt außerdem bei der Frau zum Eisprung, bewirkt anschließend die Umwandlung des Follikels in den Gelbkörper und ermöglicht so eine Schwangerschaft. Das FSH sorgt bei der Frau für die Ausreifung der Eizellen.

Durch tumorbedingte Schädigung im Bereich der Hypophyse und des Hypothalamus (zum Beispiel durch ein Sehbahngliom, ein Kraniopharyngeom), nach einer Operation in dieser Region und/oder nach einer Schädelbestrahlung kann es zum Gonadotropinmangel und, damit einhergehend, zu folgenden Problemen kommen:

  • Ausbleiben oder Verzögerung der Pubertätsentwicklung (Pubertas tarda) bei ehemaligen Patienten und Patientinnen
  • Ausbleiben der Regelblutung beziehungsweise Störung der Samenzellproduktion
  • beeinträchtigte Fruchtbarkeit / Unfruchtbarkeit

Ein erhöhtes Risiko für einen Gonadotropinmangel nach Schädelbestrahlung haben ehemalige Patienten:

  • weiblichen Geschlechts
  • nach hohen Strahlendosen (mehr als 30 Gray im Bereich von Hypothalamus / Hypophyse) [BOR2015‎]
  • die zum Erkrankungs-/Behandlungszeitpunkt älter als zehn Jahre waren
  • mit Medulloblastom

Wichtig zu wissen: Bereits nach niedrig-dosierter Schädelbestrahlung (18-24 Gray) kann später die Ausschüttung des für die Gelbkörperbildung zuständigen Hormons (luteinisierendes Hormon, LH) herabgesetzt sein. Die Folge ist eine verkürzte Gelbkörperphase im Menstruationszyklus der Frau, die für eine beeinträchtigte Fruchtbarkeit verantwortlich sein kann.

Vorzeitige oder beschleunigte Pubertätsentwicklung (Pubertas praecox)

Schädelbestrahlungen sowohl im Bereich niedriger (18-35 Gray) als auch höherer Strahlendosen (mehr als 35 Gray) können nicht nur zum Gonadotropinmangel (siehe oben) führen, sondern auch zu einer vermehrten Ausschüttung dieser Hormone.

Als Ursache dafür nimmt man an, dass die Signale aus der Hirnrinde, die die Gonadotropin-Ausschüttung normalerweise hemmen, nach einer Schädelbestrahlung gestört sein können. Die Folge ist eine vorzeitige Pubertätsentwicklung (Pubertas praecox). Sie kann sich wie folgt bemerkbar machen:

  • bei Mädchen: Beginn der Brustentwicklung vor dem 8. Lebensjahr und erste Regelblutung vor dem 10. Lebensjahr
  • bei Jungen: erste Pubertätszeichen (Wachsen von Hoden und Penis, Schambehaarung, Bartwuchs) vor dem 9. Lebensjahr
  • erhöhte Wachstumsgeschwindigkeit bei Mädchen und Jungen mit gleichzeitig beschleunigter Skelettreifung, gefolgt von vorzeitigem Wachstumsstopp und erniedrigter End-Körperhöhe

Ein erhöhtes Risiko für eine vorzeitige Pubertätsentwicklung haben ehemalige Patienten:

  • weiblichen Geschlechts
  • nach Schädelbestrahlung (ab 18 Gray)
  • mit Übergewicht (siehe Kapitel „Übergewicht)

Mögliche Spätfolgen nach Chemotherapie und/oder Wirbelsäulenbestrahlung

Störungen der Eierstockfunktion bei Mädchen / Frauen

Die Eierstöcke (Ovarien) sind für die Bildung von Eizellen und weiblichen Geschlechtshormonen (Östrogen, Progesteron) verantwortlich. Bei weiblichen Überlebenden einer ZNS-Tumorerkrankung kann es bereits während oder kurz nach einer Chemotherapie und auch nach einer Bestrahlung der Wirbelsäule zu einer Beeinträchtigung oder gar zum Erlöschen der Eierstockfunktion kommen.

Die Eierstöcke können in diesem Fall nicht mehr ausreichend oder gar keine Eizellen beziehungsweise Hormone produzieren. Dadurch kann es zu folgenden Problemen kommen:

  • verzögerte Pubertätsentwicklung (Pubertas tarda)
  • Ausbleiben der Regelblutung
  • Östrogenmangel
  • vorzeitiger Eintritt der Wechseljahre / der Menopause (vor dem 40. Lebensjahr)
  • Unfruchtbarkeit
  • erhöhte Knochenbrüchigkeit (Osteoporose)
  • Herz- und Kreislauferkrankungen
  • Müdigkeit (Fatigue)

Ein erhöhtes Risiko für eine Beeinträchtigung der Eierstöcke und somit der Fruchtbarkeit besteht:

  • wenn die Eierstöcke im Bestrahlungsfeld lagen
  • nach Bestrahlungsdosen von mehr als 10 Gray (stark erhöhtes Risiko ab 20 Gray)
  • bei Patientinnen, die zum Bestrahlungszeitpunkt älter als 13 Jahre waren
  • nach Behandlung mit bestimmten Zytostatika (Alkylantien, insbesondere Cyclophosphamid, Ifosfamid, Lomustine und Temozolomid; Platinsubstanzen wie Cisplatin und Carboplatin; Doxorubicin, Etoposid, Vincristin, Methotrexat, Prednison)
  • nach hohen Gesamt-Dosen dieser Zytostatika
  • bei Patientinnen, die zum Zeitpunkt der Chemotherapie bereits in der Pubertät waren

Bei den meisten ehemaligen Patientinnen, die eine "reguläre" Kombinationschemotherapie erhalten haben, erholt sich die Funktion der Eierstöcke in der Regel kurze Zeit nach Therapieende. Anders ist es im Falle einer Hochdosis-Chemotherapie zur Vorbereitung einer Stammzelltransplantation, die bei ZNS-Tumorpatienten allerdings nur selten durchgeführt wird.

Wichtig zu wissen: Bei vielen ehemaligen Patientinnen kommen, unabhängig davon, ob sie zum Zeitpunkt der Chemotherapie bereits in der Pubertät waren oder nicht, Reifungsstörungen der Eizellen sowie ein vorzeitiges Eintreten der Wechseljahre vor. Deshalb sind auch nach anfänglicher Erholung der Eierstockfunktion regelmäßige Nachsorgeuntersuchungen in einer Hormonsprechstunde unverzichtbar.

Störungen der Hodenfunktion bei Jungen / Männern

Die Hoden sind für die Bildung von Samenzellen (Spermatogenese) und von männlichem Geschlechtshormon (Testosteron) verantwortlich. Bei ehemaligen Patienten einer ZNS-Tumorerkrankung können sowohl eine chemotherapiebedingte als auch eine strahlenbedingte Schädigung der Hoden zu Störungen der Hodenfunktion führen. In der Folge kommt es zu:

  • verzögerter Pubertätsentwicklung (Pubertas tarda)
  • Störungen der Samenzellproduktion
  • Testosteronmangel (nach Bestrahlungsdosen von mehr als 20 Gray) [BOR2015‎] [HOW2002]
  • Unfruchtbarkeit

Ein erhöhtes Risiko für eine dauerhafte Hodenfunktionsstörung haben ehemalige Patienten:

  • deren Hoden mit mehr als 2 Gray bestrahlt wurden
  • nach Behandlung mit hohen Dosen bestimmter Zytostatika (Alkylantien, insbesondere Cyclophosphamid, Ifosfamid, Lomustin, Temozolomid; Platinsubstanzen wie Cisplatin und Carboplatin; Etoposid, Doxorubicin, Methotrexat, Vincristin, Prednison)

Gut zu wissen: Nach geringer Strahleneinwirkung (1-2 Gray) auf die Hoden erholt sich die Spermatogenese bei vielen ehemaligen Patienten auch noch nach mehreren Jahren. Diese Erholung kann mittels Spermiogramm im Rahmen der Nachsorgeuntersuchungen festgestellt werden, die deshalb unbedingt wahrgenommen werden sollten.

Wichtige Nachsorgeuntersuchungen

Um späteren Beeinträchtigungen der Pubertätsentwicklung und der Fruchtbarkeit optimal vorzubeugen, ist es wichtig, dass die in den Therapieprotokollen empfohlenen Nachsorgetermine in der Hormonsprechstunde wahrgenommen werden.

Nachsorgeempfehlungen nach einer Schädelbestrahlung

  • Weibliche Überlebende nach einer Schädelbestrahlung mit mehr als 18 Gray, die bei Abschluss der Krebstherapie noch nicht in der Pubertät waren, sollten bis zu einem Alter von acht Jahren mindestens alle sechs Monate, danach mindestens einmal im Jahr ihre Pubertätsentwicklung untersuchen lassen, bis diese abgeschlossen ist.
  • Weibliche Überlebende nach einer Schädelbestrahlung mit mehr als 40 Gray sollten im Alter von 13 Jahren die Blutspiegel ihrer Geschlechtshormone (LH, FSH, Östradiol) und bestimmter Fruchtbarkeitsmarker (zum Beispiel Inhibin-B) überprüfen lassen.
  • Männliche Überlebende nach einer Schädelbestrahlung mit mehr als 18 Gray, die bei Abschluss der Krebstherapie noch nicht in der Pubertät waren, sollten bis zu einem Alter von neun Jahren mindestens alle sechs Monate, danach mindestens einmal im Jahr ihre Pubertätsentwicklung untersuchen lassen, bis diese abgeschlossen ist.
  • Männliche Überlebende nach einer Schädelbestrahlung mit mehr als 40 Gray sollten im Alter von 14 Jahren die Blutspiegel ihrer Geschlechtshormone (LH, FSH, Testosteron) und bestimmter Fruchtbarkeitsmarker (zum Beispiel Inhibin-B) überprüfen lassen.
  • Alle ehemaligen Patienten und Patientinnen sollten nach einer Schädelbestrahlung mit mehr als 40 Gray lebenslang mindestens einmal im Jahr einen Termin in der Hormonsprechstunde wahrnehmen, bei dem insbesondere eventuelle Probleme der Sexualfunktionen besprochen werden.

Nachsorgeempfehlungen nach einer Wirbelsäulenbestrahlung und/oder Chemotherapie für ehemalige Patientinnen

Ehemalige Patientinnen sollten:

  • sich bis zum Abschluss ihrer Pubertätsentwicklung mindestens einmal im Jahr vom Hormonspezialisten untersuchen lassen
  • im Alter von 13 Jahren die Blutspiegel ihrer Geschlechtshormone (LH, FSH, Östradiol) und bestimmter Fruchtbarkeitsmarker (zum Beispiel Inhibin-B) überprüfen lassen [BOR2015‎] [SCH2013b]
  • einen Menstruationskalender führen
  • lebenslang mindestens einmal im Jahr ein Gespräch mit dem Hormonspezialisten wahrnehmen, bei dem insbesondere Zyklusstörungen und sexuelle Funktionen besprochen werden

Nachsorgeempfehlungen nach einer Wirbelsäulenbestrahlung und/oder Chemotherapie für ehemalige Patienten

Ehemalige Patientinnen sollten:

  • sich bis zum Abschluss ihrer Pubertätsentwicklung mindestens einmal im Jahr vom Hormonspezialisten untersuchen lassen
  • regelmäßig ein Spermiogramm durchführen lassen
  • im Alter von 14 Jahren die Blutspiegel ihrer Geschlechtshormone (LH, FSH, Testosteron) und bestimmter Fruchtbarkeitsmarker (zum Beispiel Inhibin-B) überprüfen lassen [BOR2015‎] [SCH2013b]
  • lebenslang mindestens einmal im Jahr ein Gespräch mit dem Hormonspezialisten wahrnehmen, bei dem insbesondere sexuelle Funktionen besprochen werden

Förderung / Behandlung bei Störungen von Pubertätsentwicklung und Fruchtbarkeit

Verzögerungen der Pubertätsentwicklung beziehungsweise ein vorzeitiger Pubertätseintritt werden von Hormonspezialisten nach standardisierten Richtlinien behandelt [BOR2015‎] [HAU2011] [DOE2011]. Diese beinhalten zum Beispiel Hormonersatztherapien mit synthetischen Sexualhormonen beziehungsweise Behandlungen mit Substanzen, die Gonadotropine hemmen.

Da es dank moderner Reproduktionstechniken mittlerweile möglich ist, sowohl Männern als auch Frauen Möglichkeiten zur Elternschaft zu verhelfen, wenn sie nicht vollständig unfruchtbar sind, sollten die Betroffenen diese Thematik im Rahmen der Nachsorge unbedingt ansprechen. Die nachsorgenden Ärzte können sicher mit Informationen und Kontaktadressen weiterhelfen.

Wichtig: Alle ehemaligen Patienten und Patientinnen einer ZNS-Tumorerkrankung im Kindes- oder Jugendalter sollten eine Kinderwunschberatung wahrnehmen.

Ausführliche weiterführende Informationen zu Pubertäts- und Fruchtbarkeitsstörungen und zu Möglichkeiten der Vorbeugung und Behandlung finden Sie in unserem Text „Spätfolgen für die Fortpflanzungsorgane“.