Erhöhtes Krebsrisiko durch radioaktive Strahlen

Beitrag der Redaktion vom 22.06.2011 anlässlich der Fukushima-Reaktor-Katastrophe im März 2011

Autor:  Dr. med. Gesche Tallen, MD, PhD, Redaktion:  Ingrid Grüneberg, Freigabe:  Prof. Dr. med. Ursula Creutzig, MD, PhD, Zuletzt geändert: 19.09.2019 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e195993

Einleitung

Wie groß ist das Risiko, nach Kontakt mit radioaktiver Strahlung an Krebs zu erkranken? Welche Auswirkungen wird die noch andauernde Kernschmelze in Fukushima auf die Menschen unmittelbar vor Ort und auch im weiteren Umkreis der Katastrophe haben? www.kinderkrebsinfo.de möchte Sie in die Problematik, dieses spezielle Krebsrisiko einschätzen zu können [ZYL2011], einführen und darüber hinaus Interessierte auf weiterführende Literatur aufmerksam machen.

Der heutige Wissensstand beruht hauptsächlich auf den Auswertungen der Daten von insgesamt 500.000 Opfern des Reaktorunfalls in Tschernobyl durch den wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen (UNSCEAR) [UNS2000] und 120.000 Überlebenden der Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki durch das BEIR-Committee [EPA2008] [BEI2006].

Ionisierende Strahlung: Definition und Maßeinheiten

  • Radioaktive Strahlen gehören zu den ionisierenden Strahlen. Ionisierende Strahlen besitzen sehr viel Energie, die sie beim Durchgang durch einen Organismus an dessen Gewebe abgeben. Dadurch können Körperzellen so schwer geschädigt werden, dass ihr Erbmaterial verändert wird und sie sich zu Krebszellen umwandeln. Ionisierende Strahlung kommt in der Erdkruste und der Atmosphäre als natürlicher Bestandteil unserer Umwelt vor. Sie kann aber auch künstlich erzeugt werden für den gezielten Einsatz in Medizin und Technik. Ein Beispiel hierfür sind elektromagnetische Strahlen wie Röntgenstrahlen und Gammastrahlung, die unter anderem in der Krebsdiagnostik und –behandlung eingesetzt werden.
  • Strahlendosen werden international in Sievert und in Gray angegeben. "Gray" (Gy) beschreibt die Energiemenge, die durch Strahlung pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen wird. Sie sagt jedoch nichts aus über die Wirkung dieser Energie auf den Körper. "Sievert" (Sv) hingegen bezieht sich auf die Strahlenbelastung biologischer Organismen, also auf die empfangene schädigende Strahlenenergie. Diese Maßeinheit wird deshalb bevorzugt bei der Abschätzung von Strahlenrisiken verwendet (Einheit bei Gray und Sievert: 1 Joule pro Kilogramm).

Strahlenbelastung, Grenzwerte und Strahlenschutz

  • Jeder Mensch am Erdboden ist zum einen einer verbleibenden Höhenstrahlung am Boden, zum anderen der Strahlung natürlicher radioaktiver Stoffe, hauptsächlich aus dem Bodengestein der Erdkruste, ausgesetzt. In Deutschland beträgt die gesamte Dosis aus dieser natürlichen Strahlung im Mittel etwa 2,1 mSv pro Jahr [BFS2011]. Sowohl eine Röntgenaufnahme der Lunge als auch eine Flugreise von Frankfurt nach New York und zurück sind jeweils mit einer durchschnittlichen Strahlendosis von 0,1 mSv verbunden5. Zum Vergleich: Die Arbeiter im nahen Umfeld des Reaktors in Fukushima sollen einer Dosis von etwa 170 mSv ausgesetzt gewesen sein [ZYL2011].
  • Nach der deutschen Strahlenschutzverordnung darf die ionisierende Strahlung, die zum Beispiel von Kernkraftwerken und verschiedenen industriellen Anlagen ausgeht oder in der Medizin verwendet wird (so genannte zivilisatorische Strahlung), für die Bevölkerung eine Dosis von 1 mSv pro Jahr nicht überschreiten. Erwachsene, die im Rahmen ihrer Arbeit radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, dürfen in einem Jahr nicht mehr als 20 mSv aufnehmen. Für berufstätige Jugendliche unter 18 Jahren beträgt dieser Grenzwert 1 mSv pro Jahr. Die Berufslebensdosis wurde auf 400 mSv festgesetzt. Für nicht schwangere Frauen, die aus beruflichen Gründen ionisierender Strahlung ausgesetzt sind, gelten die gleichen Dosisgrenzwerte pro Kalenderjahr wie für Männer. Jedoch darf bei Frauen im gebärfähigen Alter die Organdosis der Gebärmutter nur maximal 2 mSv pro Monat betragen. Bei schwangeren Frauen darf diese Dosis von der Kenntnis bis zum Ende der Schwangerschaft die Grenze von 1 mSv nicht überschreiten [BFS2011].

Krebsrisiko

Krebserkrankungen lassen nicht erkennen, wodurch sie verursacht wurden. Entsprechend können bösartige Erkrankungen, die durch radioaktive Strahlung ausgelöst wurden, nicht von anderen Krebserkrankungen unterschieden werden. Außerdem besteht bei jedem Menschen ein individuelles, natürliches Risiko, irgendwann in seinem Leben an Krebs zu erkranken (Lebenszeitrisiko). Weitere Faktoren, die Einfluss auf das Risiko und auch die Art einer strahlenbedingten Krebserkrankung haben, sind beispielsweise das Lebensalter zum Zeitpunkt der Strahlenbelastung, das Geschlecht der betroffenen Person, die Strahlendosis, zusätzliche Belastungen durch krebserregende Stoffe wie Nikotin, die individuelle Strahlenempfindlichkeit und auch das am stärksten bestrahlte Organ [BEI2006]. Alle diese Faktoren bergen Unsicherheiten, die bei der Risikoabschätzung unbedingt berücksichtigt werden müssen.

So darf eine Krankheitsverursachung durch Strahlung nur dann angenommen werden, wenn die Erkrankung bei bestrahlten Personen nachweisbar häufiger auftritt als bei nicht bestrahlten Personen (Kontrollgruppe), und wenn sich darüber hinaus eine solche Beobachtung wiederholt bestätigen lässt (zum Beispiel durch die Auswertung mehrerer großer bestrahlter Personengruppen und entsprechender Kontrollgruppen). Damit diese Voraussetzungen erfüllt sind und entsprechend zuverlässige Daten für eine wirklichkeitsgetreue Risikoabschätzung zur Verfügung stehen, bedarf es unter anderem sorgfältig geführter Krebsregister [SCH2011]. Da es diese in Russland in den 80erJahren so noch nicht gab, wird der UN-Bericht UNSCEAR [UNS2000] zu den Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe weiterhin kontrovers diskutiert [ZYL2011].
Die Atombomben-Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki hingegen wurden sorgfältig registriert, ausreichend (> 50 Jahre) nachbeobachtet und ihre Daten umfassend dokumentiert. Die neuesten Auswertungen sind im 7. Bericht "Biologic Effects of Ionizing Radiation" (BEIR VII)3 der Nationalen Akademien der Wissenschaften [BEI2006] zum Thema Strahlenwirkungen zusammengefasst.

BEIR VII3 stellt für die elf häufigsten Krebsarten (10 solide Tumoren und die Leukämien) Modelle vor, mit deren Hilfe abgeschätzt werden kann, wie hoch nach einer Strahlenbelastung das Risiko ist, an Krebs zu erkranken oder daran zu versterben. Diese Modelle schließen die weiter oben erwähnten Unsicherheitsfaktoren nach bestem Wissen mit ein. BEIR VII wird sowohl vom US-amerikanischen Ministerium für Umweltschutz (EPA) [EPA2008] als auch vom Bundesamt für Strahlenschutz [BFS2011a] derzeit als verlässlichste Grundlage für Aussagen zum Thema Krebsrisiko nach Strahlenbelastung verwendet.

BEIR-Modelle zur Abschätzung eines Strahlenrisikos

Mehr als 60% der Atombomben-Überlebenden waren einer Strahlendosis von weniger als 100 mSv ausgesetzt. Deshalb beziehen sich die Analysen in BEIR VII3 [BEI2006] auf die gesundheitsschädigenden Folgen von niedrigen Strahlendosen (< 100 mSv). Eine der Schlussfolgerungen des Berichts besagt, dass bereits niedrige Strahlendosen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Spätfolgen wie Krebserkrankungen erhöhen, dass es also keine Mindestdosis (Schwellendosis) für ein strahlenbedingtes Krebsrisiko gibt. Statistisch signifikante Risiken für die Entstehung von Krebs und/oder für das Versterben an einer Krebserkrankung waren bei den Atombomben-Überlebenden bei Organdosen oberhalb von 20 mSv erkennbar. Sehr hohe Strahlendosen können bereits nach wenigen Tagen zu unterschiedlichen, schweren Gewebeschäden führen.

Die BEIR-Modelle machen deutlich, dass bestimmte Krebsarten nach einer Strahlenbelastung schneller und häufiger entstehen als andere. Der Zeitraum zwischen Verursachung (hier durch die Strahlenbelastung) und Auftreten der Krankheit wird als Latenzzeit bezeichnet. Diese ist am kürzesten bei strahlenbedingten Leukämien. Für Kinder werden die kürzesten Latenzzeiten angegeben (durchschnittlich zwei bis drei Jahre für Leukämien, und durchschnittlich acht Jahre für andere Krebserkrankungen).

Die Modellanalysen zeigen weiter, dass - unter bestmöglicher Einbeziehung oben genannter Unsicherheitsfaktoren - die krebserzeugende Wirkung ionisierender Strahlen in einem direkten Verhältnis zur Strahlendosis steht, vorausgesetzt, es handelt sich um niedrige Strahlendosen. Experten sprechen dabei auch von einer "linearen" Dosis-Wirkungs-Beziehung. Das bedeutet, dass beispielsweise die Hälfte einer bestimmten Strahlendosis auch nur eine halb so starke, eine doppelte Dosis jedoch eine doppelt so starke, krebserzeugende Wirkung auf ein Organ hat. Bei Leukämien ist das anders: Hier ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung keine lineare, sondern eine "linear-quadratische". Damit ist gemeint, dass das Risiko, an einer Leukämie zu erkranken, mit steigender Strahlendosis deutlich stärker ansteigt als das Risiko für das Auftreten von soliden Tumoren. Ein genetisches Strahlenrisiko, also die Wahrscheinlichkeit für das strahlenverursachte Auftreten von genetischen Schäden bei künftigen Generationen, wurde, verglichen mit der strahlenunabhängigen Häufigkeit von Erbkrankheiten, als sehr niedrig angesehen [EPA2008].

Risikoabschätzung für die Lebenszeitrisiken von 100.000 Personen aller Altersgruppen an einem soliden Tumor oder an einer Leukämie zu erkranken. Interpretation: Die Wahrscheinlichkeit, nach Kontakt mit radioaktiven Strahlen an Leukämien zu erkranken, beträgt im Verhältnis zu Leukämien, die ohne Strahlenbelastung entstehen, bei Männern und Frauen zirka 1:8, während dieses Verhältnis bei soliden Tumoren bei Männern zirka 1:57, bei Frauen 1:28 beträgt.

Risikoabschätzung gemäß BEIR VII
Solide Tumoren*
männlich
Solide Tumoren* weiblich
Leukämien
männlich
Leukämien weiblich
Zahl der erkrankten Personen/100.00 nach Strahlenbelastung von 100mS
800
1300
100
70
Zahl der erkrankten Personen/100.000 ohne zusätzliche Strahlenbelastung
45.500
36.900
830
590

* solide Tumoren von folgenden Organen ausgehend: Magen, Darm, Leber, Lunge, Brust (nur bei weiblichen Personen), Prostata, Gebärmutter, Eierstock, Harnblase, Schilddrüse
Quelle: [NAP2006]

Fazit

  • Es wird deutlich, dass keine Schwellendosis für ein Krebsrisiko definiert werden kann und dass die Untersuchungen zum Strahlenrisiko Modelle sind, die durch zahlreiche Unsicherheiten beeinflusst werden. Die Höhe der Strahlenbelastung (in Sv) an sich und die Verteilung der Belastung über einen Zeitraum spielen eine Rolle.
  • Das Risiko für die Entwicklung von Leukämien ist generell höher als für solide Tumorerkrankungen. Die läßt sich innerhalb niedriger Dosisbereiche (weniger als 0,1 Sv = 100 mSv) als linear-quadratisch beschreiben.
  • Insgesamt ist das Wissen zum Krebsrisiko für den Menschen durch radioaktive Strahlen noch nicht vollständig. Zukünftige Untersuchungen zum Effekt von niedrigen Strahlendosen auf die Schädigung und auf die Reparaturfähigkeit des Erbmaterials in unseren Körperzellen, zum individuellen Krebsrisiko, zur individuellen Strahlenempfindlichkeit, zur Gesundheit von Arbeitern in der Atomindustrie und von Bürgern der Ukraine, Weißrusslands und Russlands und viele mehr werden wichtige zusätzliche Informationen liefern.